Freitag, April 26, 2024

»Sozialer Muskel« muss trainiert werden

Blomberg (miw). »Die vergangenen eineinhalb Jahre haben auch bei den Kindern und Jugendlichen Spuren hinterlassen«, ist sich Holger Nickel, Bereichsleiter der SOS-Kinderdorf-Einrichtung »Beratung und Treffpunkt« in Blomberg, sicher.

Der Verzicht auf soziale Kontakte, die Herausforderung des Homeschoolings und die ständige Angst, einen geliebten Menschen durch das Corona-Virus zu verlieren: Für viele Kinder und Jugendliche sei die Corona-Zeit sehr belastend.

Umso wichtiger findet Nickel, dass Familien Probleme ernst nehmen und sich bei Bedarf Unterstützung holen. Dies sei kein Zeichen von Schwäche – im Gegenteil, betont er. »Die Kinder- und Jugendzeit ist geprägt von Entwicklungsaufgaben«, erklärt Psychologe Uwe Lange, der zum Beratungsteam gehört. Freundschaften knüpfen, erste Partys besuchen und sich ausprobieren – all dies sei entwicklungstechnisch notwendig, macht Lange deutlich.

Seit Beginn der Corona-Pandemie sei dies jedoch nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich gewesen. »Das muss nachgeholt werden«, sagt der Psychologe und vergleicht es bildhaft mit einem sozialen Muskel, der wieder trainiert werden muss. »Fußball statt Nachhilfe« lautet daher sein Appell. Gemeint ist, dass die Ferien besser dafür genutzt werden sollten, um die sozialen Bindungen zu stärken. Erst wenn diese Basis geschaffen sei, könnten die Schüler auch wieder richtig lernen und das Fachliche – also den Schulstoff – aufarbeiten.

Dass es in den vergangenen Monaten aufgrund der Corona-Pandemie mehr Beratungsgespräche gegeben hat, kann Nickel nicht verzeichnen. Eher sei eine leichte Abnahme zu beobachten gewesen. Er vermutet, dass die Menschen in der akuten Krise zu sehr damit beschäftigt sind, den Corona-Alltag zu bewältigen. Da sich die Corona-Lage aktuell mit den sinkenden Inzidenzwerten etwas beruhigt, rät Nickel, wieder mehr auf seine Seele zu achten.

»Das Stresslevel ist im Homeschooling höher als in der Schule«, sagt Uwe Lange. Zudem würden sich zu Hause Unlust und Motivationsarmut breit machen, weiß er aus Gesprächen mit Schülern und Eltern. Reizbarkeit, Kopf- und Bauschmerzen sowie Gewichtszunahme durch mangelnde Bewegung seien nur einige der Symptome, die manche Kinder durch die Belastung der Pandemie erfahren.

»In den vergangenen eineinhalb Jahren wurden die Kinder und Jugendlichen immer wieder mit verschiedenen Ängsten konfrontiert«, sagt Nickel. Angst sei ein wichtiges Gefühl, jedoch dürfe es nicht das Leben bestimmen, erklärt er. Die Beratungsstelle bietet Unterstützung, Probleme und Ängste aufzuarbeiten. Gemeinsam werden individuelle Bewältigungsstrategien gesucht. Manchmal könne es Jugendlichen helfen, mit jemandem, der nicht zur Familie gehört, zu sprechen. Der Einrichtungsleiter weist ausdrücklich darauf hin, dass die Berater der Schweigepflicht unterliegen.

Mit Kindern und Jugendlichen gelange man am besten über das gemeinsame Tun ins Gespräch, wie Lange erklärt. So hält die Beratungsstelle beispielsweise ein Mal- sowie ein Spielzimmer für die Besucher vor. Wichtig sei aber auch die Frage, was die Eltern für ihr eigenes Wohlbefinden tun können. »Kinder haben ganz feine Antennen und spüren, wenn es uns nicht gut geht«, macht Lange deutlich. Begleitende Angebote für Eltern seien daher sehr sinnvoll.

Das Angebot der Blomberger Beratungsstelle ist für die Klienten kostenlos. Für ein Beratungsgespräch ist eine vorherige Anmeldung persönlich an der Holstenhöfener Straße 4 oder unter der Rufnummer (05235) 5097930 erforderlich.

Holger Nickel (links), Leiter der Beratungstelle, und Psychologe Uwe Lange helfen Kindern und Jugendlichen beispielsweise dabei, mit Gefühlen wie Angst und Panik umzugehen. Foto: Michaela Weiße