Dienstag, März 19, 2024

»Doktor« rettet Kindheitserinnerungen

Blomberg (miw). Ein abgerissener Arm, ein Loch im Kopf, ein fehlendes Auge: Das sind die häufigsten Diagnosen, die Horst Gerberich bei seiner Arbeit stellt.

Doch was sich nach lebensgefährlichen Verletzungen anhört, ist in Wahrheit nur halb so schlimm. Die »Patienten« des Blombergers sind nämlich nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Celluloid, Porzellan oder Pappmaché.

Gemeinsam mit seiner Ehefrau Ingeborg betreibt der 71-Jährige seit 2004 eine Puppenklinik. Und das »Wartezimmer« ist nach wie vor gut besucht. Schon beim Betreten des Hauses der Familie Gerberich wird schnell klar – hier wohnt ein Puppen-Liebhaber. Und das ist Ingeborg Gerberich.

Überall hat die 83-Jährige ihre alten »Schätzchen« liebevoll drapiert. Sie sitzen auf dem Sofa, in Vitrinen und an vielen anderen Plätzen. »Am liebsten mag ich die Käthe-Kruse-Puppen«, erzählt die Blombergerin, die ihre Vorliebe für Puppen schon in Kindertagen entwickelte.

Damals, als sie gerade erst zehn Jahre alt gewesen ist, starb ihre Mutter. Die Puppen hätten ihr in dieser Zeit Trost gespendet, erklärt Ingeborg Gerberich. Ihr Mann hingegen kam erst viel später und eher auf Umwegen zu den Spielfiguren. Horst Gerberich war Unteroffizier bei der Bundeswehr und bildete dort Krankenpfleger aus. Dass er jedoch einmal Puppen gesund pflegen würde, daran habe er nie gedacht.

Bei einer Hilfsaktion im SOS-Kinderdorf sei er dann einmal zum Reparieren von Puppen eingeteilt worden, erinnert sich Gerberich. Zunächst sei er von dieser Aufgabe überhaupt nicht begeistert gewesen, doch schnell habe er Gefallen an diesem Handwerk gefunden. Es wurde zu seinem Hobby, das er nach seiner Pensionierung im Jahr 2004 schließlich intensiver verfolgte.

Gemeinsam mit seiner Frau eröffnete er die Puppenklinik. »Jeden Tag kommt mindestens eine neue Puppe hier an«, erzählt der Puppendoktor von der großen Nachfrage. Die Puppen und auch Teddybären werden ihm aus ganz Deutschland und sogar darüber hinaus zugeschickt. Das liege daran, dass es heutzutage nicht mehr so viele Puppendoktoren gebe. Früher hätten die Friseure Puppen repariert, erklärt Horst Gerberich. Im Kreis Lippe ist er nach eigenen Angaben der einzige Puppendoktor. Die nächstgelegenste Puppenklinik sei in Minden.

Die Werkstatt von Horst Gerberich befindet sich im Keller des Hauses. Dort stehen zahlreiche Puppenköpfe und -körper nebeneinander im Regal. Im Lagerraum nebenan reiht sich Kiste an Kiste. Arme, Beine und sämtliche andere Ersatzteile sind darin zu finden. »Rund 10.000 Einzelteile«, so die Schätzungen des 71-Jährigen. Für die Reparaturen verwendet Gerberich ausschließlich Altteile, um das Spielzeug möglichst originalgetreu wiederherzustellen. »Man braucht ein ruhiges Händchen«, sagt er, während er eine Puppe, die ihr Bein verloren hat, repariert. Dabei kommen Schleifer, Klemme und andere Werkzeuge zum Einsatz.

»Die älteste Puppe, die ich repariert habe, war aus dem Jahr 1870«, erzählt der Puppendoktor, der auf Anhieb erkennt, aus welcher Zeit ein Spielzeug stammt. Doch nicht alle seiner »Patienten« seien antik oder wertvoll. Eines hätten aber fast alle Puppen und Teddybären auf seinem »Operationstisch« gemein: Für den Besitzer haben sie einen hohen individuellen Wert. »Da stecken Geschichten dahinter«, weiß Gerberich.

So handele es sich nicht selten um die Puppe der Urgroßmutter, die schon über Generationen hinweg weitergegeben wurde. Und von den Besitzern erfahre er hin und wieder auch spannende Geschichten über die Puppen. So habe beispielsweise einmal jemand eine zur Reparatur gebracht, die den Untergang des Flüchtlingsschiffs »Wilhelm Gustloff« im Jahr 1945 »überlebte«.

Wenn die Figuren die Werkstatt von Horst Gerberich wieder verlassen, dann sind sie mit der Behandlung jedoch noch nicht fertig. Zwei Etagen höher kümmern sich Inge Gerberich und ihre beste Freundin Renate Sieweke (81) um die Spielzeuge. Sie reinigen die Puppen, kleben ihnen Perücken auf, kämmen das Haar und ziehen ihnen Kleidung an. »Manche Kleider müssen wir auch reparieren«, sagt Renate Sieweke, die selbst eine leidenschaftliche Puppensammlerin ist.

Neben einem großen Fundus aus alten Miniatur-Kleidern, die sie unter anderem auf Börsen und Messen erwerben, nähen die Frauen diese auch aus alten Stoffen selbst. Repariert, angezogen und »gestylt«, werden die Puppen dann auf die Reise zurück zu ihren Besitzern geschickt. Mit ihrer Arbeit rettet das Team der Puppenklinik nicht nur Puppen, sondern auch viele Kindheitserinnerungen.

Mit verschiedenen Werkzeugen repariert Horst Gerberich die Blessuren der Puppen. Foto: Michaela Weiße